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12.03.2022 | 20:16

Maja Pelević: In Unfreiheit haben wir verstanden, wie unfrei wir sind

Maja Pelević: In Unfreiheit haben wir verstanden, wie unfrei wir sind

Die Dramatikerin, Regisseurin und Performerin Maja Pelević, Autorin einer Reihe von Theaterstücken, die sich in den letzten zehn Jahren mit Schlüsselthemen der serbischen Gesellschaft befasst haben (Pomorandžina kora/ Orangenhaut, Ja ili neko drugi/ Ich oder jemand anderes, Moje nagrade/ Meine Auszeichnungen, Oni žive/ Sie leben ..), glaubt, dass die mentale Gesundheit der Menschen ein zentrales Thema ist, mit dem wir uns alle auseinandersetzen müssen, angeführt von einem Staat, der das schon lange vor der Pandemie als Priorität gehabt haben muss - wegen allem, was in dieser Region in den 1990er Jahren und danach passiert ist. In einem Interview mit SEEcult.org stellt Maja Pelević fest, dass der Umgang mit mentaler Gesundheit besonders im liberalen Kapitalismus wichtig ist, dessen System und insbesondere seine Version in Serbien darauf ausgelegt ist, dass man keine Zeit hat, über etwas anderes nachzudenken, als darüber, wie man die Familie ernähren kann und ein Dach über dem Kopf hat. Da bleibt keine Zeit, über andere Menschen nachzudenken, über Solidarität, und etwas zum Wohle der Gesellschaft umsonst zu tun – das ist pure Utopie. Über Utopien sollte man allerdings nachdenken, weil sie ein Weg sind, gegen alles zu kämpfen, und die Menschen müssen ja auch Hoffnung haben, glaubt Maja Pelević, Mitglied der Bewegung für Demokratisierung Europas DiEM25.

„Unser Staat ist im Allgemeinen nicht in den Bereich der mentalen Gesundheit eingetreten, auch nicht in dem Teil, der nichts mit dieser Pandemie zu tun hat und der so wichtig ist und schon vor langer Zeit hätte angegangen werden müssen, und das ist der Bereich der menschlichen psychischen Gesundheit nach den Traumata und den Kriegen der 1990er Jahre. Jetzt haben wir ein neues Kapitel, und das ist der Kapitalismus, der, wenn er etwas wirklich bedroht, dann ist das die psychische Gesundheit der Menschen. Die Menschen arbeiten pausenlos wie auf einem Fließband, sie kommen nicht zu Atem, geschweige denn dazu, sich mit der psychischen Gesundheit auseinanderzusetzen, die sich natürlich auch auf die körperliche Gesundheit auswirkt. Der Staat befasst sich nicht mit psychischer Gesundheit, es gibt Einzelpersonen, die sich damit befassen, aber das ist ein Luxus. In Grund- und weiterführenden Schulen wird die Institution der Psychologen nicht so ernst genommen, wie sie sein sollte, von Unternehmen und Firmen ganz zu schweigen. Wer Geld hat - kann einen Therapeuten haben und andere... Was überhaupt nicht gut ist, denn das berühmte PTSP wird erst in den nächsten Jahren zum Ausdrukk kommen. Wir werden die Folgen der Epidemie in den ersten Monaten nach ihrem Ende nicht spüren, aber wir werden sie später und jahrelang spüren – die Folgen werden erst sichtbar sein, wenn die Lockerung und Entspanntheit einsetzen. Dabei haben wir die Wirtschaftskrise völlig vergessen, niemand spricht darüber, was kommen wird, wir haben die Krise noch nicht einmal gesehen, und sie passiert und wird erst noch passieren“, sagte Maja Pelević.

Sie habe sich nach eigenen Angaben während der Quarantäne freier gefühlt als davor und danach, weil ihr die Quarantäne einen gewissen Freiraum gegeben habe.

„In diesem Mangel an Freiheit haben wir erkannt, wie unfrei wir wirklich sind, und das war extrem befreiend, wie eine Entdeckung. Ich war nie im Gefängnis, ich habe nur die Geschichten von Menschen gehört, die diese Erfahrung gemacht haben und die sagen, dass sie sich im Gefängnis freier gefühlt haben als draußen. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis empfanden sie eine Art menschliches Verhalten, das sie sonst in den verschlossenen Räumen nicht mehr empfanden. Deshalb ist das Interessanteste für mich, wenn ich die Pandemie beobachte, die Beziehung zwischen Geschlossenheit und Offenheit, Freiheit und Unfreiheit und das Infragestellen im Hinblick auf die Tatsache, dass wir uns in einer Art freier Welt befinden, und dabei ist es erstaunlich, wie wahnsinnig unfrei wir eigentlich sind. Und erst als wir eingesperrt waren, wurde uns das Ausmaß unserer Unfreiheit bewusst. In der Theorie wussten wir das alle, aber erst da haben wir das auch erlebt“, sagte sie.

Maja Pelević ist der Ansicht, dass die Frage der Entstehung des Virus nicht behandelt werden sollte, da es viel wichtiger sei, wie sich die Länder verhalten haben, als das Virus kam.
„Es war interessant zu beobachten, ich fühlte mich wie in einem unglaublichen Experiment, als ich innerhalb von zwei Tagen in Serbien – das kein gesetzestreues wie Deutschland ist – bemerkte, dass die Leute anfingen, Masken zu tragen, ruhig in einer Reihe zu stehen, Handschuhe anzuziehen, diese Rituale zu respektieren, wenn sie das Haus betraten, alles auszuziehen und auf den Balkon zu bringen. Nach nur drei Tagen taten wir, als wären wir Personen aus „Maid“. Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell sich diese Rituale verbreiteten. Auf eine Art und Weise lieben wir diese Rituale, dass uns jemand sagt, was wir tun sollen. Und erst dann begannen die Unruhen: Die einen wollen dies nicht, die anderen wollen das nicht, sie wollen keine Masken, sie wollen keine Impfstoffe... Was diesen Teil der Geschichte betrifft, das kann immer als eine Fallstudie der menschlichen Natur erklärt werden.

Was für mich interessanter ist, ist, dass es zeigt, wie einige, bedingt gesprochen, demokratische Gesellschaften beim Test der Demokratie absolut schlecht abgeschnitten haben, vor allem Amerika und sogar viele westliche Länder. Es kam zu vollständigen Schließungen innerhalb ihrer Länder-Nationen. Das EU-Projekt war zerfallen, jedes Land konnte entscheiden, wie viel und wie es den Impfstoff nimmt, welche Einreisebestimmungen jeweils gelten, also unter welchen Bedingungen man einreisen kann oder eben nicht... Das gesamte EU-Konzept ist völlig ins Wasser gefallen. Ganz zu schweigen von der Nord-Süd-Beziehung, und natürlich der Tatsache, dass das Virus in Afrika mutiert, wenn sie ja nichts haben. Erst hier kam es zu einem vollständigen zivilisatorischen Zusammenbruch. Das ist für mich interessanter als die Chipping-Theorie, die ich belustigend finde, weil wir schon gechippt sind – jeder, der ein iPhone hat, ist gechippt, wir tragen es jeden Tag, wir stecken Daten hinein, wir haben elektronische Ausweise... Es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir buchstäblich gechippt werden. Und das ist das kleinste Problem. Mein größeres Problem und Phänomen ist, wie das ganze Zivilisationsprojekt der Demokratie, der Union, der Solidarität, der Hilfe, freier Länder, der Freiheit im Allgemeinen, völlig entwertet, gescheitert ist. Zum Beispiel spricht niemand darüber, was mit Australien passiert, sie befinden sich dort in einer totalen Blockade, und die Leute wissen darüber nichts. Bis gestern war es das gelobte Land. Ich kenne viele Leute, die bis vor kurzem dorthin wollten, und es stellt sich heraus, dass dort eine völlig verrückte Diktatur herrscht, schlimmer als irgendwo sonst auf der Welt. Der kürzlich erschienene Film „Don’t Look Up“ hätte bis zur Pandemie wie die größte Science-Fiction ausgesehen, aber jetzt scheint es überhaupt nicht unrealistisch, dass ein Meteor auf uns zusteuern könnte. Daher ist es für mich immer interessanter, alles global zu beobachten, die Tatsache, dass es in unserem Land immer einen zusätzlichen Wahnsinn gibt, das ist eine andere Sache“, sagte Maja Pelević.

Was die Kunst betrifft, glaubt Maja Pelević, dass keine einzige Kunst Sinn macht, wenn jemand bei ihrer Entstehung in irgendeiner Weise gefährdet wurde. Gleichzeitig glaubt sie, dass keine einzige Kunst, die nicht selbstkritisch ist, Sinn macht. Sie glaubt auch, dass Theater, das das Leben nicht hinterfragt, bedeutungslos ist, weshalb sie es nicht bedauerte, als es während der Pandemie in seiner ursprünglichen „Zuschauer-Darsteller“-Form verschwand, weil es bereits seinen Sinn verloren hatte.

„Lange vor der Pandemie hatte das Theater nicht mehr die Leidenschaft, die es einmal hatte, es war nicht mehr etwas, das für alle Schichten der Gesellschaft zugänglich war, wo verschiedene Probleme neu untersucht werden konnten. Es hatte sich zu einem Ort entwickelt, an dem schöne Garderobe getragen wurde, Menschen sich bürgerliche Aufführungen ansahen, die die Menschen zum Lachen bringen, die Menschen unterhalten, und diese ihre Abende dort verbringen. Man merkt, dass das Theater zu einer bürgerlichen Institution wird, wo niemand viel fragen will, sich um etwas sorgen will, es ist bereits ein Ort für „Brot und Spiele“… Ich habe nicht den Eindruck, dass die Menschen es kaum erwarten konnten, dass die Theater öffnen. Vielleicht dachten viele von ihnen – na, das brauchen wir nicht... Und vielleicht brauchen wir diese Art von Theater wirklich nicht mehr. Vielleicht ist es an der Zeit, völlig abzusterben, zur Museumskunst zu werden und dann eine neue Art von Theater zu schaffen, in welcher Form auch immer, das eine Möglichkeit sein wird, zu den Menschen zurückzukehren. Im Moment ist der Kampf gegen Rio Tinto für mich größer als die meisten Dinge, die auf unseren Bühnen passieren. Und das nicht nur in Serbien, sondern auch in den Aufführungen, die ins Bitef-Theater kommen. Man sieht, dass es eine Art des Theatertodes gibt, des Sinnestodes im Theater, in der Form, bezüglich der Form und Art, wie wir es bisher kannten“, sagte Maja Pelević.

*Das ganze Interview (in serbischer Sprache) ist auf diesem Link zugänglich.

Photo: Anđelko Vasiljević

(SEEcult.org)

Gefördert mit Mitteln aus dem Internationalen Hilfsfonds für Organisationen in Kultur und Bildung 2021 des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland, des Goethe-Instituts und weiterer Partner, www.goethe.de/hilfsfonds

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