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19.01.2022 | 16:02

Nebojša Romčević: Wir sind nicht mal auf der Ebene der griechischen Tragödie

Nebojša Romčević: Wir sind nicht mal auf der Ebene der griechischen Tragödie

Der Dramaturg Nebojša Romčević, Drehbuchautor, Theatrologe und Professor and der Fakultät der Dramakünste in Belgrad, sagt im Interview für SEEcult.org, dass er die serbische Realität nicht einmal mit der griechischen Tragödie vergleichen kann, die Lösung, Besinnung und Katharsis beinhält, weil dies hier nicht vermutet werden kann. Er ist kein Optimist in Bezug auf die Zukunft, weil seiner Meinung nach eine Ideenlosigkeit herrscht und die Jugendlichen nicht für die Realität interessiert sind – ausgenommen derjenigen, die der extremen Rechten angehören.

Die Pandemie hat seiner Meinung nach die Erlöschung der Kontinutiät der alten Welt und die Aufstellung einer neuen Welt gekennzeichnet und als eine der negativen Folgen sieht er die Umsiedlung des Kapitals aus staatlichen Budgets in private Hände. Es handelt sich um ein Problem auf globaler Ebene und wurde in Serbien ins Extreme getrieben, meint Romčević.

„In jeder Situation – so pflegte ein griechischer Stoiker zu sagen – sind Dinge an sich selbst weder gut noch schlecht, sondern die Betrachtung dieser Dinge. Die Art und Weise, wie wir sie erleben, kann positiv oder negativ sein. Das, was mit der Korona passiert, ist eigentlich die Erlöschung der Kontinutät einer Welt. Auf allen Meridianen sind wir Zeugen der Entstehung einer neuen Welt und können das immer noch nicht als einen rationellen Prozess erkennen.

Verschwörungstheoretiker werden sagen, dass dieser Prozess auf jeden Fall existiert, dass alles Teil einer globalen Verschwörung, der Automatisierung der Menschheit, der Dehumanisierung, der Verteilung des gesellschaftlichen Reichstums ist ... Versuchen wir aber mal, alles außerhalb dieses Kontextes zu betrachten. Einerseits haben die Menschen eingesehen, ohne was sie leben können, ohne welche Albernheiten, die sie als wichtig sahen - was sehr positiv ist. Sie verbrauchen weniger Geld, finden weniger Freude am Shopping – sie haben erkannt, das Mitmenschen und Liebe wichtiger sind, das dies essentiell ist. Vielleicht hat es die Pandemie geschafft, Müll aus unseren Köpfen hinauszuwerfen, sie mit teilweise neuem Müll vollzustopfen, aber nicht in jenem Maß, in dem wir im Shopaholic-Rausch, im Rennen für die Domination des äußerlichen Glanzes gelebt haben. Perioden der Isolation können zu schweren Depressionen und Persönlichkeitsstörungen führen, aber sie können uns auch auf den Weg zur Selbstbetrachtung, zur intelektuellen Vertiefung in sich selbst, zum Lernen neuer Fähigkeiten führen. Wir haben eingesehen, dass Glück nicht außerhalb uns selbst steht und dass wir nicht passiv auf das Glück warten dürfen. Dass wir Besserung weder vom Staat noch von Menschen aus unserer beruflichen Branche erwarten sollten, weil sich Verbesserung oder Verschlechterung in uns selbst befinden. Dies könnte eine positive Folge sein.

Die negative Folge ist, dass das Kapital aus staatlichen Budgets in private Hände umgesiedelt ist und zwar auf der ganzen Welt – und in Serbien hat das ein extremes Ausmaß. Der Staat ist zum Eigentum privater Personen geworden. Das ist eine unendlich negative Folge, die zu globalen Störungen führen wird. Ich habe so meine Zweifel, ob wir aus diesen Störungen herauskommen, indem das Geld den Nationen zurückgegeben wird. Ich glaube, dass die große Umbenennung aller wichtigen Spieler auf der globalen Szene abgeschlossen ist und dass wir erst sehen werden, in welchem Maße Staaten als Entitäten verarmt sind und inwiefern Einzelpersonen, vor allem aus den Medien und der Pharmaindustrie, Herrscher des Universums geworden sind“, sagte Romčević, Autor von Dramen wir „Carolina Neuber“, „Das leichte Stück“, „Passives Rauchen“, „Paradox“, von Serien wie „Wir werden Weltmeister sein“ oder „Strafraum“, von Filmen wie „Kordon“, „Die Herde“ ...

Wenn er die heutige Zeit mit den neunziger Kriegsjahren in dieser Region vergleicht, ist Romčević der Meinung, dass es einen großen Unterschied gibt, aber dass die Rhetorik der politischen Machtstrukturen mehr oder weniger die Gleiche geblieben ist und dass diese heute in viel größerem Maße dazu bereit sind, „absolut jedes kleinste Loch zu stopfen, durch das eine unabhängige Meinung hindurchschlüpfen kann“.

„In diesem Sinne ist Politik als Aktivität liquidiert. Wenn sie keine geltenden Gesetze haben, haben sich auch keine Bedingungen für Politik. Alles läuft auf eine alternative virtuelle Realität hinaus und hier, in diesen Diskursen, die nirgendwohin führen – außer zu uns selbst – spielt sich die Schlacht ab, in der niemand gewinnen kann. Es ist ja die Idee, diese Schlacht in den Medien für immer zu führen, dass sie ein vollständiger Ersatz für die reale Schlacht sein soll. In den neunziger Jahren hatten die Medien keine so große Bedeutung. Wir hatten die Tyrannei des staatlichen Fernsehens und einiger anderer Medien, aber die Anzahl der Medien war viel geringer.

Wir hatten auch ein ganz anderes intelektuelles Profil der protestierenden Menschen. Heute sind die meisten von ihnen sowie ihre Nachfahren, die von Qualität geprägt sind, im Ausland. In den neunziger Jahren hatten wir an der Spitze der Opposition Leute von Kapazität. Jeder von ihnen wusste auf seine eigene Art und Weise und aus seinem eigenen intellektuellen, emotionellen und pseudo-historischen Blickwinkel, dass der Abgang von (Slobodan) Milošević die Bedingung für den Einhalt des unglaublichen Verfalls von Serbien war. Jetzt stellt sich heraus, dass die Zeit vom Jahr 2000 bis zur Ankunft dieses Unglücks der jetzigen Regierung eigentlich ein Auftakt war, da wir mit dem kontinuierlichen Einstürzen der Idee der Republik und des Bürgerstaates konfrontiert sind und dass es sich bei jenen Zeiten nur um eine kurzweilige Periode handelte.

Was es das Phänomen der Menschen auf den Straßen in jener Zeit und die Abwesenheit von Menschen in dieser Zeit betrifft, sollte man den Grund in der Tatsache suchen, dass die Menschen heute mehr Angst vor Freiheit haben. Es ist für sie leichter, als Sklaven zu leben, keine Energie und keine Idee zu haben. Es ist eine Tatsache, dass wir in dreißig Jahren in jeder Hinsicht eine verheerende innerliche Rückwärtsentwicklung erlebt haben, vor allem in Bezug auf die Idee des Bedürfnisses nach Freiheit. Hier befindet sich der Hauptunterschied zwischen den neunziger Jahren und der heutigen Zeit. Hoffnung stellt da die Karotte dar. Wenn es keine Hoffnung gibt, sollte man sich fragen, worauf diese Menschen hoffen könnten – nicht im Sinne von absoluten abstrakten Kategorien, sondern im Sinne von etwas Konkretem. Dieses Konkrete wären die Rechtsordnung im Staat und Gerechtigkeit als dominierende Idee. Alles andere geht daraus hervor. Für die Menschen ist es aber leichter, Ungerechtigkeit zu ertragen, als etwas zu tun. Das sind süße Qualen für Soziolgen des Katakliysmus, die hier in Laborbedingungen die Dekadenz eines ganzen Volkes und die fanatische Rückkehr in ... sagen wir ... die zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts beobachten können ... Da ist etwas in der Mentaliät oder in der Bildung oder im Geflecht dessen, was uns zu Menschen macht ... ein Glied ist geplatzt ... der Aufzug hat sich abgekoppelt und wenn er auf dem Boden aufprallt, wird es sehr weh tun. Das Problem ist nur, dass Staaten jahrhundertelang verfallen - wenn wir über das Byzantinische Reich sprechen, hat es ein ganzes Jahrtausend gedauert. Wenn wir durchkommen, wenn jetzt der Verfall aufhören würde, müssten sich viele Generationen abzehren, damit dieses Land mit seiner Vorwärtsentwicklung beginnt“, schätzte Romčević ein.   

*Das ganze Interview (in serbischer Sprache) ist auf diesem Link zugänglich.

(SEEcult.org)

Gefördert mit Mitteln aus dem Internationalen Hilfsfonds für Organisationen in Kultur und Bildung 2021 des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland, des Goethe-Instituts und weiterer Partner, www.goethe.de/hilfsfonds

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