Kokan Mladenović: Serbisches Prekariat und andere Geschichten
Theaterregisseur Kokan Mladenović glaubt, dass uns in der Zeit nach der Pandemie viele Veränderungen erwarten. Unter anderem müsse das Theater neu organisiert werden, „viel schlauer, verlockender und radikaler“, denn die Routine der Produktion und des Aufführens von Theaterstücken werde nicht mehr ausreichen, damit jemand eine Eintrittskarte kauft. Geschieht das nicht, wird das Theater zu einer „versteinerten Kunst“, wie die Oper.
„Das Theater muss in dieser Zeit nach Corona, die uns erwartet, neu organisiert werden. Und das beständige Theaterpublikum, das wir hatten – und wir alle wissen, dass es immer ein erbärmlicher Prozentsatz der Bevölkerung in einer Nation ist, die keine gepflegten kulturellen Bedürfnisse mehr hat – hat sich aufgrund von Ängsten, der Panik und der Diskontinuität des Theaterbesuchs, vom Theater distanziert. Das Theater müsste jetzt viel schlauer, verlockender und radikaler werden, denn die Routine der Produktion und des Aufführens von Theatertücken wird nicht mehr ausreichen, damit jemand eine Eintrittskarte kauft und sich etwas anschaut. Nur mit besonderem Eifer und einer besonderen Wahl dessen, was wir in dieser Postcovid-Welt sagen wollen, können wir das Publikum anziehen. Die Theater hatten meistens so viel offen wie sie nur konnten, und doch ist bei unserer Mentalität jede Plage, sogar das Corona, ein gutes Alibi für Untätigkeit. Also haben wir auch hier unser Bestes gegeben, nichts zu tun. Ich denke, dass die Dinge bei dieser Gelegenheit langsam zu Ende gehen“, sagte Mladenović in einem Interview für SEEcult.org.
Die Veränderungen müssen seiner Meinung nach von den Bürgerinnen und Bürgern selbst angestoßen werden.
„Wir müssen sie selbst in Bewegung bringen. Unser beschämendes Kulturbudget ist immer noch beschämend. Das System der Pflege beziehungsweise der Vernachlässigung kultureller Institutionen ist so ausgearbeitet, dass es illusorisch wäre zu erwarten, dass die Regierung den Wunsch haben wird, dass die Menschen kultivierter werden, weil dann die Menschen diese Art von Regierung nicht wollen, so geht für mich hier die Rechnung völlig auf. Vor einem Monat gab es ein ausgezeichnetes Interview von Dubravka Vrgoč über das Postcovid-Theater und was uns erwartet... Wir sind naiv, wenn wir denken, dass dies eine kleine Veränderung ist. Covid zeigte, wie klein die Welt in Wirklichkeit ist, ein Dorf, in dem nicht nur Informationen, sondern auch Krankheiten und Viren mit unglaublicher Geschwindigkeit übertragen werden. In diesem Sinne ist die Welt eine Gemeinschaft, die leicht zu gefährden ist und die das Leben mit Hass, Kriegen, Kapital usw. noch schwieriger macht… Theater wird, wenn es sich nicht verändert, definitiv wie die Oper – versteinerte Kunst mit Standardformen, die manche Leute besonders gerne besuchen, aber um jetzt nicht radikal etwas zu sagen und zu erleben, sondern ist das eher eine kulturelle Gewohnheit. Diese Veränderungen hängen von denen ab, die unsere Häuser führen, und sie werden meistens von ideenlosen Menschen oder politischen Feiglingen geleitet, also - wir werden sehen, was daraus wird ... ", sagte Mladenović.
Kindern und Jugendlichen muss gezeigt werden, dass es nichts Besseres gibt als Reisen und offene Grenzen, weil es auch das beste Mittel gegen Faschismus ist, sagt Mladenović, der kürzlich zwei Theaterstücke produzierte, und zwar eins nach dem anderen, das eine über das Problem der Gewalt in der Gesellschaft (Deca Paklene pomorandže/Die Kinder der Höllenorange in Novi Sad) und das zweite über die patriarchalischen Pathologien, die die Gesellschaft zerstören (Poslednje devojčice/Die letzten Mädchen in Subotica).
Auf die Frage, ob „cancel kultura/Kultur stornieren“ eine Art des sozialen Drucks seine könnte, um die Dinge in Bewegung zu bringen und zu lösen, sagte Mladenović, dass es nicht klug sei, die Kultur aufzugeben oder zu stornieren oder zu boykottieren, aber dass er der Meinung sei, dass Radikalität bei einigen Handlungen gelegentlich notwendig sei, um zu verstehen, wie groß das Problem in Wirklichkeit ist.
„Wir sind es gewohnt, über politische Ungerechtigkeiten zu schweigen, über Gewalt zu schweigen… Wenn wir alles über uns ergehen lassen, wenn wir jedes Mal, wenn wir Ungerechtigkeit sehen oder von dieser hören, nicht reagieren, trainieren wir eigentlich unseren Geist, feige und zu kompromissbereit zu werden. Wenn wir uns auch noch mit Kunst beschäftigen, dann hören wir auf, das Recht zu haben, über Abweichungen und Deviationen zu sprechen, weil wir das Recht, laut zu sprechen, nicht genutzt haben, als es nötig war“, fügte Mladenović hinzu.
*Das ganze Interview (in serbischer Sprache) ist auf diesem Link zugänglich.
(SEEcult.org)
Gefördert mit Mitteln aus dem Internationalen Hilfsfonds für Organisationen in Kultur und Bildung 2021 des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland, des Goethe-Instituts und weiterer Partner, www.goethe.de/hilfsfonds